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‚Citius altius fortius‘?

Was die Antike über den Fortschritt dachte

Wilfried Stroh


Seiten 115 - 144



Die Idee des Fortschritts, wonach die Menschheit sich stetig zum Besseren hin entwickle, ist seit der Franzosischen Revolution vielfach in Misskredit gekommen: durch ungluckliche Ideologien, die sich ihrer bemachtigt haben, durch den Missbrauch technischer Erfindungen zu Krieg und Volkermord und durch verheerende Nebenwirkungen wie den zur Zeit viel diskutierten Klimawandel. Die Antike kennt nicht die Vorstellung eines universellen Fortschritts, der auch in die Zukunft weiterginge, sondern nur den einer partiellen Fortentwicklung einzelner Erfindungen und Wissenschaften. Immerhin kann so Seneca sogar die Entdeckung Amerikas prophezeien. Im Allgemeinen aber enden die bekannten Kulturentstehungstheorien, etwa bei Platon und Lukrez, in der Gegenwart. Das beruhmte Stasimon des Sophokles uber den „ungeheuren Menschen“ feiert den Geist, nicht die Fortschrittlichkeit des Menschen und ist tief ironisch. Allen Fortschrittsideen entgegen steht seit Hesiods Weltaltermythos die Idee einer generellen moralischen Dekadenz, die besonders von den Kynikern, aber auch von Horaz und Ovid mit der technischen Entwicklung gekoppelt wird. Eine Sehnsucht nach neuen technischen Erfindungen gibt es kaum: Der „Traum vom Fliegen“, den man gerne der Antike zuschreibt, kam nachweislich erst dann auf, als die erste Montgolfiere abgehoben hatte. Es war vielleicht die Entgottlichung des Kosmos durch das Christentum, die den technischen Fortschritt entfesselte und die uns Heutige am tiefsten vom antiken Denken scheidet. Dennoch beruhrt sich das Ideal des „einfachen Lebens“, wie es die fortschrittskritischen Denker Epikur und Seneca vertraten, nicht nur oberflachlich mit den Postulaten moderner Fortschrittskritiker.

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